Der Adler (Eine Fabel)   

Die Bestimmung eines Adlers

(„Eines Tages werde ich fliegen!“)

 

Ein Adler lebte, weil er nicht fliegen konnte, schon sehr lange auf einem Hühnerhof. Eines Tages, als er wieder einmal beobachtete, wie mit dem aufkommenden Wind frei lebende Adler über dem Gehege am Himmel entlang glitten, sagte er mit Sehnsucht und Entschlossenheit in der Stimme:

 

„Ich habe Angst vorm Fliegen, und ich habe auch überhaupt keine rechte Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Adler zu sein, weil ich mein Leben lang nur das Hühnerdasein kennen gelernt habe – aber ich BIN als Adler geboren, und ich WERDE alles daransetzen, wieder zu fliegen!“

 

Dies hörten die anderen Adler auf dem Hühnerhof (es waren ausser ihm noch einige mit dem gleichen Schicksal dort), und sie begannen, auf den Adler einzureden:

„Interessante Gedanken, die du da hast – aber nichts für mich“, sagte der Erste, und wandte sich zum Gehen.

„Ich denke, ich habe aufgrund bestimmter Erfahrungen andere Dinge lieben und schätzen gelernt, als zu fliegen“, sinnierte ein älterer Adler. „Ich habe mir hier etwas geschaffen, worin ich mich ein Stück weit wohl fühlen, sicher fühlen kann... und ja, es ist anders als bei anderen Adlern ... aber wer legt fest, daß alle fliegen können müssen? Ich habe keine normale Vergangenheit gehabt, ich habe keine normale Gegenwart... warum sollte ich in Zukunft normal sein, als wäre alles in und um mich herum normal? Wer erwartet von einem Querschnittsgelähmten, dass er Marathon läuft?“

„Auch wenn alle anderen diese Dinge gut und gerne machen“, ergänzte ein weiterer Adler, „muss man wirklich alles haben, um glücklich sein zu können? Oder kann man auch glücklich sein, indem man seine Wunden annimmt und sich eben auf anderen Gebieten entfaltet - die nicht problembesetzt sind? Ich bin in all den Jahren hier auf dem Hof ein Spezialist im Misthaufen besteigen geworden …“

„Aber es ist doch unsere Bestimmung zu fliegen!“ dachte der Adler verzweifelt. „Sollte man es nicht wenigstens probieren? Nicht alle von uns sind querschnittsgelähmt und unheilbar flugunfähig … geknickte und beschnittene Federn wachsen nach, und bei manchen sind nur die Muskeln verkümmert, und – bei diesen Worten richtete er sich auf – nicht zuletzt haben wir einen Schöpfer, der seine Federn liess, damit wir heil sein und fliegen können!“

Die nächste Bemerkung holte ihn ziemlich abrupt wieder auf den Boden zurück:

„Gerade flugunfähige Adler haben oft erstaunliche Stärken in anderen Bereichen“, sagte der ältere Adler, „und das hat etwas mit ihrer Geschichte, mit ihren Wunden zu tun. Ich finde es ganz wichtig, das zu sehen. Wir haben Stärken und dürfen vielleicht sogar ein bisschen stolz auf uns sein.“

Ein weiterer Adler nickte zustimmend: „Ich freue mich darüber, hier auf dem Hof im Lauf der Zeit laufen und im Sand picken gelernt zu haben. Ich bin dankbar und genügsam. Ich träume nicht jeden Tag davon, fliegen zu können – und, ehrlich gesagt, bereitet mir der Gedanke ziemlich Panik, jemand könnte kommen und von mir erwarten, ich sollte fliegen lernen. Ich sollte froh darüber sein, überhaupt weiter laufen zu können.“

„Aber … seid ihr denn wirklich glücklich damit?“ fragte der Adler ungläubig. „Mit all diesen Einschränkungen das Leben eines Huhns zu führen?“

„Also, ich bin damit nicht unglücklich. Vielleicht bin ich noch nicht so weit wie du. Ich lebe als flugunfähiges Wesen und komme damit gut zurecht“, antwortete ein junger Adler, dem man als Küken die Federn gestutzt hatte. „Wieso sollten wir damit nicht glücklich sein? Weil andere uns das sagen?“

„Nein“, sagte der Adler. „Weil wir es selbst in unserem Inneren spüren, daß wir zu etwas anderem geschaffen wurden, als auf dem Boden im Sand zu scharren. Fliegen zu können und König der Lüfte zu sein ist ein Geschenk des Schöpfers der Adler an uns.“

„Mal ganz ehrlich“, warf ein anderer Adler ziemlich wütend ein: „Wie viele Geschenke unseres Schöpfers packen wir zeitlebens nicht aus?! Und ausgerechnet hier sollte ein Mangel liegen? Das will ich nicht glauben! Ich kann darin weder ein Geschenk sehen, noch empfinde ich irgendeinen Mangel – sorry!“

„Das frage ich mich bereits seit 10 Jahren“, meldete pflichtete ein anderer bei, „ob ich dieses oder jenes sonderbare Geschenk vom Schöpfer der Adler wirklich haben wollen und herbeisehnen muss, und mich dann auch noch daran freuen muss... wenn es mir allein bei dem Gedanken ans Fliegen schon den Magen umdreht.“

„Muss“? dachte der Adler unglücklich.

 

„Der Schöpfer der Adler weiß, wo wir unsere Wunden haben“, äusserte sich ein weise aussehender Adler „und da zwingt er uns nicht etwas auf, was den Schmerz noch vergrößern würde. Genau das ist das Wesen des Schöpfers: Er fordert keine Leistung in wunden Bereichen.“

„Das klingt sehr fromm… “, dachte der Adler, „…sicher verlangt der Schöpfer nicht von uns, mit gebrochenen und verkümmerten Flügeln zu fliegen. Doch das habe auch ich niemals gemeint. Ist der Schöpfer der Adler nicht ein Gott, dessen Möglichkeiten weit über den begrenzten Horizont unserer Vorstellungskraft hinausgehen? Aber es wird keinen Sinn machen, ihnen das zu erklären“, dachte er traurig.

Der nächste Adler kam sehr analytisch daher: „Irgendwie habe ich das Gefühl, daß du einem Denkfehler unterliegst. Bei mir erweckt es so den Eindruck, als würdest du dem Leben oder deiner Bestimmung hinterherhetzen, ohne das zu leben, was du eigentlich schon bist. Wir sind, was wir sind. lch frage mich, ob dein Streben nach deiner "wahren" Identität nicht letztendlich dazu führt, nicht im Hier und Jetzt zu sein, und das Leben zu verpassen.“

„Aber ist DAS hier das wahre Leben?“ fragte sich der Adler. „Unter Hühnern im Sand zu scharren? Wie soll ich in diesem Gehege das Leben eines Adlers führen? Es ist normal für einen Adler, fliegen zu wollen. Und ich BIN ein Adler …“, fügte er leise und ein wenig trotzig hinzu.

„Was ist schon normal?“, warf ein philosophisch angehauchter Adler ein: „Ist nicht alles relativ?“

„Genau!“ bekräftigte ein anderer. „Warum darf ich nicht so sein, wie ich bin, und wie ich mich wohlfühle – und wenn’s ein Huhn oder der grüne Traktor vom Bauern wäre .... wie es eben mir und meinem Empfinden entspricht. Warum muss ich so werden, wie es "normal" oder "gesund" ist, nur weil alle anderen Adler sich so wohlfühlen – und ich vielleicht kreuzunglücklich damit bin?“

„Aber du bist weder ein Huhn noch ein Traktor“, dachte der Adler. „Du bist ein Adler - und du wirst keine Erfüllung darin finden, ein Traktor zu sein. Oder ein Huhn.“ Laut sagte er: „Es macht niemanden unglücklich, das zu tun und zu sein, was vom Schöpfer der Adler her seine ursprüngliche Bestimmung ist. Es ist wie nach Hause zu kommen.“

Dann sah er ihre leeren und ungläubigen Blicke: „Sie verstehen mich nicht“, dachte der Adler traurig.

„Adler sein reduziert sich nicht nur auf den Bereich des Fliegens“, setzte der philosophische Adler seinen Gedankengang fort, „Adler sein ist so viel mehr. Der Adler ist nicht nur Adler, wenn er in die Luft steigt, sondern er ist auch dann Adler, wenn er am Boden ist. Seine Identität verliert sich nicht, egal in welchem Hühnerdreck er auch herumwühlt. Selbst flugunfähig auf einem Hühnerhof findet sich noch eine Verwendung für ihn, und sein Leben ist nicht umsonst. Zu hohe Ziele verhindern das eigentliche Leben - und das ist der wirkliche Verlust.“

„Es ist Wahrheit in diesen Worten, aber irgendetwas ist daran auch verkehrt …“, sinnierte der Adler nachdenklich.

„Das hast du ganz super ausgedrückt“, pflichtete ein anderer Adler seinem Vorredner bei. „Ich möchte nicht mein Leben lang der Perfektion hinterher rennen, die der Schöpfer der Adler irgendwann einmal für mein Leben bestimmt hat. Mittlerweile hat sich einiges geändert, und ER hat es zugelassen.... und fliegen brauche ich nun nicht mehr, weil ich mich inzwischen umorientiert habe - zwangsläufig. Ich fände es offen gestanden reichlich unpassend, würde ich dieses Geschenk vom Schöpfer der Adler jetzt noch reingedrückt bekommen - so, wie wenn man einem erwachsenen Adler das schenkt, was er sich im Kindesalter mal gewünscht hatte ....

„Da spricht viel Bitterkeit aus deinem Herzen“, dachte der Adler. „Aber es ist noch nicht zu spät“, sagte er leise. „Die Geschenke des Schöpfers sind durch und durch gut … und er kommt nie zu spät.“

Ein weiterer Adler wirkte sehr verständnisvoll: „Ich kann dich gut verstehen, vor allen Dingen deine Sehnsucht. Sicherlich ist es wichtig, ein Ziel zu haben. Doch die Frage ist auch, wie realistisch ist ein Ziel? Die beste Vorraussetzung ist, meiner Meinung nach, versöhnt zu sein mit dem eigenen Gewordensein, auch mit den Verlusten und dem Mangel.“

„Aber wir haben einen Schöpfer, dem nichts unmöglich ist…“, begehrte der Adler ein letztes Mal innerlich auf, „…auch Fliegen nicht!

 

Haben denn alle resigniert?“ dachte er traurig. „Oder habe ICH mich getäuscht?“ Und er ging mit hängendem Kopf in das Hühnerhaus, um dort ein wenig Ruhe zu finden.

Da hörte er von weitem die Adler in den Bergen singen:

„Lobe den Herrn, meine Seele, und alles in mir Seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was Er dir Gutes getan hat: Der dir alle deine Schuld vergibt und alle deine Gebrechen heilt, der dein Leben vor dem Untergang rettet und dich mit Gnade und Erbarmen krönt, der dich dein Leben lang mit seinen Gaben sättigt, der dein Jugendkleid erneuert wie dem Adler das Gefieder. Der Herr hat seinen Thron errichtet im Himmel, seine Macht beherrscht das All. Lobt den Herrn, all seine Werke, an jedem Ort seiner Herrschaft!“ (nach Psalm 103,1-5.19.22)

Dann las eine Stimme folgende Worte:

„Warum sprichst du: Mein Weg ist dem Herrn verborgen, meinem Gott entgeht mein Recht? Weißt du es nicht, hörst du es nicht? Der Herr ist ein ewiger Gott, der die weite Erde erschuf. Er wird nicht müde und matt, unergründlich ist seine Einsicht. Er gibt dem Müden Kraft, dem Kraftlosen verleiht er große Stärke. Die Jungen werden müde und matt, auch junge Männer stolpern und stürzen. Die aber, die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, ihnen wachsen Flügel, mit denen sie auffahren wie Adler. Sie fliegen, und werden nicht müde, sie gehen, und werden nicht matt.“ (nach Jesaja 40,27-31)

„Lobe den Herrn, meine Seele, und alles in mir seinen heiligen Namen!“, sangen die Adler. “Lobt den Herrn, all seine Werke, an jedem Ort seiner Herrschaft!“

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Anmerkung:

Die Aussagen und Einwände der Adler sind (bis auf kleine grammatische und sprachliche Veränderungen) Originalbeiträge aus einem Thread, die ich als Antworten auf die Äusserung einer bestimmten Sehnsucht dort bekommen habe. Die Bibelstellen am Schluss - oder eigentlich die ganze Fabel - ist GOTTES Antwort auf die Frage, die ich ihm anschliessend stellte: Wie ER diese Sehnsucht einschätzt, und wie (un)realistisch aus SEINER Sicht mein Wunsch ist, daß ich aufgrund meiner Lebensgeschichte jemals wieder „fliegen“ werde.

Ich fand seine Antwort sehr ermutigend.

LG Indy

copyright by Indy 2005

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